Die NZZ schrieb am 10. Dezember 2022, dass das in den vergangenen Jahren ausgewiesene Wirtschaftswachstum der Schweiz – das Bruttoinlandprodukt (BIP) – trügerisch sei. Im Vergleich zu unseren umliegenden Ländern hätten wir zwar ein beeindruckendes Wachstum auszuweisen, allerdings gehöre die Schweiz zu den Ländern mit dem grössten Bevölkerungswachstum, das hauptsächlich durch Zuwanderung verursacht wird. Wird dieser Effekt des Breitenwachstums korrigiert, weist die Schweiz ein um die Hälfte tieferes Wohlstandswachstum aus, was uns gegenüber unseren umliegenden Ländern (ausser Italien) ins Hintertreffen führt. Als Treiber dieser Entwicklung wurde sogar die Personenfreizügigkeit von 2002 verortet. Der Zeitungsartikel endet in einer düsteren Prognose für 2023. Diese Schlussfolgerungen sind nicht falsch, sie beruhen auf verlässlichen Statistiken des Bundes. Das ist wohl mit ein Grund, dass die SVP mit Verve gegen die Zuwanderung kämpft, die Zahlen zeigen, dass unser Wohlstandswachstum im Vergleich zu unseren Nachbarstaaten schwach ist.

Im Grunde genommen fand ich den gut abgefassten und mit Grafiken unterlegten Zeitungsartikel aber irgendwie nicht richtig. Meine persönlichen Vergleiche aus meinem Arbeitsleben sagten etwas besseres aus.

In einem Gastbeitrag vom 3. Januar 2023 ging Boris Zürcher, Leiter der Direktion SECO, auf den obenerwähnten Bericht ein und schob die Argumente der Arbeitsproduktivität in die Gesamtbetrachtung ein, was das Bild wesentlich verbesserte.

Nun war meine Neugierde geweckt. Wenn unter Fachleuten Uneinigkeit herrscht, dann wollte ich mir ein eigenes Bild schaffen. Für mich kamen da nur die offiziellen Statistiken des Bundes infrage um Einheitlichkeit zu gewährleisten.

Entwicklung des Bruttoinlandproduktes (BIP) von 1991 – 2021
Das BIP wies 1991 nominell einen Wert von rund 385 Mrd. aus, 2021 waren es rund 731 Mrd. Teuerungsbereinigt stieg es 2021 noch auf 589 Mrd. Das reale Wachstum betrug somit 204 Mrd. oder 53%.

In der gleichen Zeitperiode stieg der Anteil der Zuwanderer auf 27%, was den erstgenannten Zeitungsartikel bestätigt. Das entscheidende Wohlstandswachstum kommt noch auf 26%. Dieses offiziell ausgewiesene BIP – ich nenne es das monetäre BIP – holt die Werte aus der Wirtschaft.

Einbezug der Arbeitsproduktivität
Boris Zürcher verweist auf zwei wesentliche Aspekte der Arbeit. Das Arbeitsvolumen hat in den letzten 30 Jahren um 12% zugelegt. Das ist weiter nicht erstaunlich, man erinnere sich nur an den Arbeitsplatz von früher zu heute: computerunterstützte Dienstleistungen, Robotertechnik, usw.. Die Produktivitätssteigerung liess aber noch mehr zu: die Jahresarbeitszeit sank von 1718 auf noch 1534 Stunden. Die Arbeitszeit nahm damit um 11% ab. Dies nicht etwa weil zu wenig Arbeit vorhanden wäre. Nein, für Arbeitnehmer wie Arbeitgeber herrschen gute Bedingungen: tiefe Arbeitslosigkeit, tiefe Inflation, niedrige Zinsen, ein gut ausgebautes Sozialnetz. Vom Lohn muss unter solchen Bedingungen nicht mehr für die unsichere Zukunft gespart werden. Es bleibt mehr Geld für Persönliches verfügbar: Hobbies, Sport, Ferien.

Die Arbeitsproduktivität wird erst seit 1991 erfasst, diese Entwicklung kannte man in früherer Zeit viel weniger. Freizeit ist zu einem Faktor geworden, den man als Wohlstandsgewinn ausleben kann, aber im BIP nicht in Franken nachzuweisen ist. Diese Art von Wohlstandsgewinn kann sich nur ein wirtschaftlich prosperierendes Land wie die Schweiz erlauben. Die Schweiz ist hier sicher mit wenigen anderen Ländern eine Vorreiterin. Kam deswegen der Lohn unter Druck? Der Durchschnittslohn der Arbeitnehmer stieg nominal um 45%, inflationsbereinigt immer noch um 17% bei einer Arbeitszeitverkürzung um 11%. Die Arbeitsproduktivität hat in der Berichtsperiode ein Wohlstandswachstum vom 23% gebracht und kompensiert das Breitenwachstum der Zuwanderung bis auf wenige Prozentpunkte.

Und jetzt?
Wir sind aber trotzdem in einer unangenehmen Lage, denn es fehlen uns in vielen Bereichen Fachpersonen.
• Also weitere Zuwanderung?
• Oder weitere Produktivitätssteigerungen?
• Oder wieder mehr Erwerbstätige (Rentner, Hausfrauen)?
• Oder wieder längere Arbeitszeiten, weniger Teilzeit?
Kommt dies alles nicht in Frage, ist unser Wirtschaftssystem schnell im Sinkflug

Das Rezept der SVP
Die Lösung ist einfach erklärt. Stoppt die Zuwanderung gibt es wieder genügend Wohnungen, die Verkehrsmittel genügen der Nachfrage und in den Spitälern wird es ruhiger. Leider ist es nicht so einfach. Es ist überhaupt nicht so.

Die Fakten sprechen eine andere Sprache
Die Zuwanderung ist zwar tatsächlich in den letzten 20 Jahren um 21% gestiegen. Die weitere Tatsache verschweigt aber die SVP, denn das BIP aus der Zuwanderung nahm um 42% zu, also eine Verdoppelung. Die Grafik zeigt vergleichsweise, wie es in den Jahren vor der Zuwanderung ausgesehen hat.

Wo liegt die Lösung?
Da gibt es leider kein einfaches Rezept. Wirtschaft und öffentliche Haushalte müssen sich überlegen, die Arbeitsstellen effizienter zu gestalten.
Die Zuwanderung darf nicht an die erste Stelle der Massnahmen gesetzt werden, sondern an die letzte.

Paul Studer, FDP Mitglied / Oetwil an der Limmat