Die Migrationslage in der Schweiz bleibt nach wie vor angespannt, obwohl es keine weiteren Verstärkungen der Fluchtbewegung aus der Ukraine gibt. Es ist sogar eine gewisse Bereitschaft zur Rückkehr festzustellen. In den Vordergrund gerückt sind dagegen wieder die zentrale Mittelmeerroute und die Balkanroute und damit die Südgrenze der Schweiz.
Jahresprognose: weiterer Anstieg
Das Staatssekretariat für Migration (SEM) hat verschiedene Szenarien für die Entwicklung im Jahr 2023 erarbeitet. Das Szenario „mittel“ geht von 27 000 Aufnahmegesuchen mit einer Eintretenswahrscheinlichkeit von 40 bis 50% aus, und die aktuellen Zahlen erhärten diese Prognose.
Auch wenn unverändert Ungewissheit über das Fortschreiten der Situation in der Ukraine besteht, ist die Konsultation bei den Kantonen über die Zukunft des bis im Frühjahr 2024 in Kraft befindlichen Status S, der den Menschen aus der Ukraine die sofortige Arbeitsaufnahme ermöglicht, angelaufen. Eine Aufhebung dieses Status, der per Definition rückkehrorientiert ist, wäre verbunden mit einer Ausreiseaufforderung. Allerdings hat sich die Fluchtbewegung in die Schweiz deutlich verändert. Mittlerweile sind die wichtigsten Herkunftsländer von Menschen, die neu in den Asylzentren aufgenommen werden, unter anderem die Türkei, Afghanistan, Eritrea, Syrien, Algerien und Marokko, aber auch Tunesien und Bangladesch.
Kanton und Gemeinden maximal gefordert
Die nationalen Prognosen waren die Basis für die Anpassung der Aufnahmequote in den Gemeinden von 9 Personen pro 1‘000 Einwohnerinnen und Einwohner auf 13 Personen pro 1000 Einwohnerinnen und Einwohner per 1. Juni 2023.
Trotz einer Vorlaufzeit von drei Monaten und der Schaffung von gut 2‘000 Aufnahme-plätzen durch den Kanton unter eigener Verantwortung waren und sind Unterbringung und Einschulung die grossen Herausforderungen für die Gemeinden. Im stark besiedelten Kanton Zürich ist schlicht zu wenig Wohnraum vorhanden, sodass als mindestens kurzzeitige Unterbringungsmöglichkeiten wie Container, umgenutzte Gewerbeliegenschaften oder gar Zivilschutzanlagen in den Vordergrund rücken. Je nach Ausgangslage in einer Gemeinde gilt es zudem, verschiedene Hürden bei den notwendigen Verfahren zu überwinden, so beispielsweise bei der Beurteilung der Gebundenheit von Ausgaben oder auch bei Baubewilligungsfragen. Mit grosser Anstrengung sowohl in personeller als auch in finanzieller Hinsicht werden die Gemeinden die ihnen gestellte Aufgabe jedoch knapp bewältigen können.
Es ist aber klar festzuhalten, dass mit der Erhöhung der Aufnahmepflicht auf 1,3% der Einwohnerinnen und Einwohner die Kapazitäten der Gemeinden endgültig erschöpft sind. Jede weitere Erhöhung dieser Quote werden sie vehement ablehnen müssen. Gleichzeitig ist der Bund aufgefordert, seine Verantwortung verstärkt wahrzunehmen. Er sollte die ihm zur Verfügung stehenden Infrastrukturen und die personellen Ressourcen nutzen und dabei darauf abzielen, die Kantone und die Gemeinden maximal zu entlasten. Die Zeit der Reservebildung auf Bundesebene ist vorbei.
Klar ist aber ebenfalls, dass mit einer raschen Rückreise der Menschen und damit einer Abnahme des Migrationsdrucks nicht gerechnet werden darf. Das heisst: Wir – und im Blickpunkt stehen einmal mehr die Gemeinden – müssen uns intensiv mit langfristigeren Lösungen auseinandersetzen.
Jörg Kündig, Kantonsrat und Präsident Verband Gemeindepräsidien des Kantons Zürich